Estland – 06-06-11

6. Juni

Und schon wieder ein Reporterteam
Und schon wieder ein Reporterteam
Butterblumenwiese
Butterblumenwiese

Um Zehn rüsten wir uns für die Weiterfahrt. Es ist nicht nur heiß, sondern schon am frühen Morgen schwül, so dass man schon beim Einsteigen in die Treckerkabine fast einen Hitzschlag bekommt. 36 Grad zeigt das Thermometer im Inneren. Auf der Hauptstraße angekommen, besuchen wir gleich einen Supermarkt. Coop ist auch hierzulande vertreten. Wir kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus, als wir die Preise sehen. Eine Zwoeinhalbliterflasche Cola kostet da zum Beispiel nur etwas über einen Euro, das Fleisch ist sehr preiswert, die Büchse Schweinemett kostet nur 63 Cent, das Pfund Butter nur 2 Euro und Räucherlachs bekommt man das Kilo für schlappe 7 Euro. Und sogar eine Zweieinhalbliterflasche Bier im Plastiklook gibt es zu kaufen. Für nur 1,69 Euro! Und dann auch noch mit 7,5% Alkohol. Auf der Flasche steht:“ Kange Hele Olu!“ Das könnte „helles Starkbier“ heißen.  Wer Raucher ist, kann sich in Estland für wenig Geld zu Tode rauchen (oder sich auch für drei Euro betrinken). Die uns bekannten Markenzigaretten kosten maximal 2 Euro 20 für 19 Stück. Es gibt aber schon welche für 1,90 Euro.

Und dann tanken wir. Ungläubig sehen wir den Tagespreis für einen Liter Diesel. 1,18 Euro ! Schade, dass man Diesel nicht trinken kann. Es wäre ein billiges Vergnügen. 

Unser 2. Handy, das auf einen Doppelvornamen hört ist in Estland leider nicht zu gebrauchen.  Das Land ist nicht gespeichert. Das andere funktioniert nach wie vor zufriedenstellend. Nur nachladen können wir unterwegs seit Wochen nicht mehr, da das Ladekabel für 12 Volt gebrochen ist und wir noch keinen Ersatz gefunden haben. So gibt das Navi fast immer gerade dann seinen Geist auf, wenn wir ganz kurz vor einem Ziel sind. Auch die 2. Batterie geht noch nicht, die Hupe hat schon lange ihren Geist aufgegeben, der fehlende Verschlussdeckel zum Öl einfüllen ist provisorisch ersetzt, so dass ständig Öl überläuft, der Tankdeckel ist auch seit Wochen ein Provisorium und einiges mehr an Kleinigkeiten. Wir müssen uns einfach mal die Zeit nehmen, eine Werkstatt aufzusuchen und zwar bald. Wir versuchen, den Weg nach Süden etwas abzukürzen und fahren Landstraßen 2. Ordnung. Wir kommen an Dörfern vorbei, wo die Landbevölkerung uns mit offenem Mund nachschaut und keine Zeit mehr findet, den Fotoapparat zu zücken. Barbara wird sehr kräftig durchgeschüttelt bei den buckligen Landstraßen, obwohl ich schon lange bis auf 15 km/h heruntergegangen bin. Die Landschaft um uns herum ist traumhaft schön. Wir bleiben hin und wieder kurz stehen, um die bunten, uns zum Teil unbekannten Wiesenblumen in Großaufnahme zu fotografieren. Eidechsen laufen uns gehäuft über die Stollenreifen. Wieselflink sind sie, die erdbraunen Minisauriere. Die wenigen flachen Wasserläufe fließen träge dahin. Überall stehen Seerosenblätter im Wasser. Frösche queren bei Tageslicht zuhauf die Straßen. Es sind sehr große, dunkelbraun gefärbte und sie haben Zeit. Wir auch ! Nach 60 Kilometern wird es in der Kabine unerträglich. Draußen herrschen 28 Grad und wir schwitzen uns die schlechten Gedanken aus dem Laib. ]

Unser Ziel heißt „Pärnu.“ 130 Km von Tallin entfernt. Das….schaffen wir heute nicht. Nicht bei dieser Affenhitze.   

An einer Tankstelle treffen wir einen Esten mittleren Alters, der uns in leicht bayrischem Dialekt freundlich anspricht.  Er hat ein paar Jahre in Ingolstadt und in Augsburg gearbeitet, ist Unternehmer und gibt uns, ohne dass wir danach gefragt haben seine Handynummer. „Falls Ihr mal in Störungen in mein Land kommt!“ sagt er. Und dann gibt er uns den heißen Tipp, der auch gut zu den gerade herrschenden Temperaturen passt, wir sollten einfach mal bei Tankstationen nach einem Übernachtungsplatz fragen. Die wüssten immer was. Es gäbe nur eine Handvoll offizielle Plätze für „Caravaner“ in Estland, aber hundert andere illegale oder besser gesagt Insider-Plätze.“ Und das nehmen wir schon nach 60 Kilometern wahr. Tatsächlich.

Marje zeigt uns ihr hoch interessantes Museum
Marje zeigt uns ihr hoch interessantes Museum
Die Reporterin ist da !
Die Reporterin ist da !

Die junge Frau an einer Statoil-Tankstelle hat einen Tipp für uns. Fünf Zetorminuten entfernt von hier gäbe es ein Waldhotel, die vielleicht auch Campinggäste aufnehmen. Eine wage Hoffnung. Aber wir würden auch im nächsten kühlen Abort übernachten, so geschafft sind wir von der Hitze. Wir biegen in einen Seitenweg ein, weg von der schnellen E 67, die für Treckerfahrer wahrlich keine Freude ist. Die Esten fahren ungewohnt viel aggressiver als die Skandinavier und überholen, wo gar kein Platz mehr wäre. Ich nenne sie estländische Straßenartisten. Sie sind echte Profis. Nur meinen Beifall bekommen sie nicht für ihre „Kunststücke.“ Wir tuckern an einen bunt gestrichenen hohen Bretterzaun mit Kinderbildern an einem Grundstück entlang. Da endlich rechts ein Schild. „Luhtre Talu.“ Wir gehen die etwa 100 Meter über einen verschlungenen Waldpfad bis zu dem Hotel zu Fuß, das aber so ganz anders aussieht, wie wir es von einem Hotel gewohnt sind.

Flach, viele ebenerdige Eingänge und architektonisch sehr, sehr schön anzusehen. Eine Frau in einem langen roten Sommerkleid kommt aus einem der Türeingänge und spricht uns an, als sie uns unschlüssig im großen Hof stehend sieht. Ob wir ein Zimmer haben möchten, fragt sie auf Englisch. Wir verneinen, geben ihr eine Visitenkarte, wo das Gespann darauf zu sehen ist und beobachten sie dabei. „Oh, that’s very nice!“ ruft sie begeistert aus und im nächsten Satz, den sie noch betonter hinterher schiebt: “You are welcome!“ Wir sehen uns kurz auf dem Gelände um. Es macht einen außergewöhnlich gepflegten und familiären Eindruck und ein Stück Innenhof  weiter hinten würde für uns genau passen. Nur Strom könnten wir leider keinen bekommen, sagt die Lady und bedauert. Uns ist es recht. Hauptsache, wir haben einen vernünftigen Stellplatz und stehen im Schatten. Wir befinden uns im Flecken „Nommeotsa“ in der Gemeinde „Märjamaa“ im Landkreis „Rapla“, genau in der Mitte zwischen der Hauptstadt Tallin und der lettischen Grenze, direkt an der E 67. 

Die Lichtmaschine wird kostenlos repariert
Die Lichtmaschine wird kostenlos repariert
Der Eingang zum Hotelgelände
Der Eingang zum Hotelgelände

Neugierig geworden, lassen sich nach und nach die restlichen Familienmitglieder sehen und begrüßen uns sehr nett. Es kommt der Chef des Hauses, Kaido Schmidt und seine Frau Marje, zu deutsch Maria, ihre 83jährige Mutter, die 33jährige Tochter und deren zwölfjähriger Sohn und ein 16jähriger Junge aus der Nachbarschaft, der ab und an auf dem Grundstück aushilft und auch dessen Mutter und die beiden Tischler, die gerade nebenan das neue Saunahaus stilvoll mit Holz verkleiden.

Alle sind sehr wissbegierig zu erfahren, was sie da für „Vögel“ eingefangen haben. Wir unterhalten uns prächtig und es tut gut, nach so einer Hitzefahrt eine solch nette Familie kennenzulernen. Sie sind alle sehr offen und scheinen Sonne im Herzen zu haben. 

Da wir zu faul und auch zu abgespannt sind, uns warmes Essen zu kochen, trauen wir uns zu fragen, ob es eventuell eine Mahlzeit im Hotel gäbe. Das gibt es zwar leider nicht, sagt Marje, aber sie könne uns geräucherte Maränen in den Bauwagen bringen. Und schon kommen nicht nur zwei halbmeterlange, frisch geräucherte Maränen auf einem stilvollen angerichteten Teller zu uns auf den Platz, sondern auch eine große Karaffe mit selbst hergestelltem, dunklem, sehr würzig schmeckendem Starkbier und zwei Glaskrügen. Das Essen und das Trinken wäre frei, sagt Märja und bevor wir uns groß bedanken können, entschwindet sie schon wieder unseren Blicken.

Das ist mehr als guter Service !! Das ist einfach toll! Abenteuerurlaub ? Ja!

Die Fische schmecken nicht nur gut, sie sehen auch sehr exotisch aus mit dem halb geöffneten zähnernen Rachen. So eine Fischart habe ich noch nie gesehen, geschweige denn probiert. Etwas ganz Verrücktes entdecken wir im Inneren der Fische: grasgrüne Gräten ! Vielleicht sind sie ja auf einer lettischen Unterwasserweide gehalten worden und haben ausschließlich Algen gefressen. Egal! Rein damit und den hungrigen Magen gefüllt.

Das Leben ist schön !!!
Das Leben ist schön !!!
Das estländische Fernsehteam reist extra aus Tallin an
Das estländische Fernsehteam reist extra aus Tallin an

Wir tafeln draußen an unserem Tischchen. Das Bier haut mächtig rein und die Sonne sticht noch um 19 Uhr. Wir besehen uns das Hotelgelände genauer. Jedes Fleckchen des wohl etwa 10000 qm großen Areals ist mit Liebe hergerichtet. Statuen aus Holz und Eisen sind wohl platziert. An jeder Ecke blühen Sträucher, die Wege sind zum Teil mit feinem Kies oder mit Natursteinplatten belegt. Ringsherum blühende Wiesen. Der Fliederduft nimmt das ganze Areal ein. Es gibt ein Saunagebäude, interessante Ruhebänke, einen Tennisplatz weiter hinten, am Waldpfad zwei nostalgische, aber saubere Trockentoiletten für die Spieler, ein sehr uriges Holzhäuschen für Gäste mit besonderen Ansprüchen, wo die Ritzen der aneinander gefügten rohen halben Baumstämme mit Gras abgedichtet sind und vieles mehr, was so richtig zu einem gelungenen Urlaub passen könnte.  

Im Prospekt hier steht: „Der Bauernhof „Luhtre“ wurde 1874 errichtet und bis 1999 hat hier ein und dieselbe Familie ihren Wohnsitz gehabt. So wurde der Bauernhof einem guten Nachbarn, dem heutigen Wirt Kaido Schmidt vererbt. Für jeden gibt es jemanden auf der Welt – dieses Sprichwort trifft zweifelsohne auf das heutige Besitzerpaar zu. Sie lernten sich 2003 kennen und der mit viel Liebe wieder aufgebaute Bauernhof spricht ganz für sich. Hier findet man den Lebenstraum und die Freundlichkeit dieser beiden Menschen.

Dieses Gästehaus ist mithilfe von Anregungen, mitgebracht von Reisen aus der ganzen Welt ausgestattet worden. Service und Bedienung sind so, wie die Gastgeber es für sich selber erwarten würden, das Essen wird zubereitet aus Lebensmitteln, die auf den Feldern der Umgebung frei vom Einfluss chemischer Mittel gewachsen sind. Die Milcherzeugnisse stammen aus dem gleichen Dorf, in dem der Hof sich befindet. Das Wild wird vom Wirt selber im Wald erlegt.

Diese Edelkatze von Marje ist 26 Jahre alt
Diese Edelkatze von Marje ist 26 Jahre alt

Zum Bauernhof gehört eine Sauna mit Schwimmbecken, in dem man in den warmen Sommermonaten auch auf dem Hof auch ein erfrischendes Bad nehmen kann, denn der nächstgelegene Ostseebadestrand in Pärnu liegt immerhin etwa 65 km entfernt. Im Speisesaal in der Wohnriege kann man Geburtstage, Hochzeiten und sonstige Feste feiern. Jedes Zimmer verfügt über TV, Dusche und WC. Frühstück im Preis einbegriffen. Preis für ein Doppelzimmer 60 Euro.“ www.luhtre.ee  

Wir fragen vorsichtig bei Marje nach, ob auch Traktoristen ein kühles Bad im Swimmingpool nehmen dürfen. Selbstverständlich dürfen wir das. Am späteren Abend kommt Marje noch einmal auf uns zu und bittet uns, ihr zu folgen. Im hauseigenen „Muuseum“ bekommen wir die Geschichte des Hauses mit, sehen die alte Schmiedewerkstatt des Erbauers des Anwesens und Kleidung aus früheren Tagen und altes Geschirr und vergilbte Fotos und viele andere interessante Dinge. Die letzte Bewohnerin des alten Bauernhauses, Johanna, hatte alles fein katalogisiert und gesammelt und aufgeschrieben.  So bekommen wir auch ein Stück Weltgeschichte aus estnischer Sicht mit, z. B. auch, dass der alte Bauer als junger Mann beim russischen Zaren gedient hat und von da wegen seiner guten Arbeit Porzellan mitbekam, das heute einen hohen Sammlerwert hat. Marje ist eine sehr, sehr gute Museumsführerin und wir sind ganz Ohr.  

Dann teilt sie uns noch mit, dass sie die örtliche Presse wegen unseres Hierseins informiert hat und die Dame, die sie aber vom Pressehaus abholen müsste, am nächsten Morgen um Neun zu uns käme. 

Bei 25 Grad Raumtemperatur im Bauwagen versuchen wir bei halb geöffneten Fenstern zu schlafen. Die unzähligen Stechmücken hinterlassen deutlich bei uns beiden ihre Spuren. Der eine Arbeiter hat uns doch tatsächlich spontan ein Spray geschenkt, als er sah, wie wir Stund für Stund vergeblich mit einer Zeitung versucht haben, die Plagegeister zu verscheuchen.

Super-Service finden wir und dafür allein geben wir Estland die Note „sehr gut.“

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