5. Juni
Um 10 nach 9 sind wir schon unterwegs auf der Schnellstraße Nr. 170 in Richtung Hafen. 11 Kilometer durch Helsinki sind zu kutschieren. Anstrengend! Es ist Sonntag und trotzdem scheinen alle Helsinkiner schon wach zu sein. Am Abend zuvor lernten wir ein sehr nettes Ehepaar unseres Alters aus Krefeld kennen, die ebenfalls heute früh mit derselben Fähre nach Tallin übersetzen wollen. Sie sind im Besitz eines schnellen Sprinters und auch sonst „gut drauf.“ Wir sind auf der gleichen Wellenlänge und es macht Spaß, mit beiden in Kontakt zu sein. Man meint, man kennt sich schon seit Jahren. Im Fährhafen sieht man sich wieder. Scheinbar haben wir sie unterwegs überholt, ohne es bemerkt zu haben. Nun, unser Zetor ist schnell!! Rita und Rolf-Wernhardt (mit„dt“) laden uns, auf der Fahrspur vor der Fähre direkt vor uns stehend, in ihrem Sprinter zu einem Kaffee ein. Die Fähre geht erst 90 Minuten später.Es ist sehr gemütlich bei den beiden.
Ein estländischer Taxifahrer, der aber in Helsinki lebt, gibt uns überraschend seine Telefonnummer mit der Option, dass wir ihn, falls wir in Schwierigkeiten kommen sollten, zu jeder Zeit anrufen könnten. Estland kommt schon vor dem Grenzübergang sehr sympathisch rüber! Ich habe nichts anderes erwartet. Natürlich stehen alle möglichen Leute in Scharen um unser Gespann herum und fotografieren und stellen Fragen und, und, und.
Ein älterer, gut gekleideter Herr mit einem ausgewählten Englisch und einem weißen Krückstock mit Monogramm hat wohl einen besonderen Gefallen an uns gefunden. Er ist Finne, lebte normalerweise ein halbes Leben schon in Samoa, ist aber jetzt in Neuguinea zu Hause, war in Russland lange Zeit berufstätig gewesen und möchte in Estland Freunde aufsuchen. Er staunt regelrechte „Bauklötzer“ über den Anblick des bunten Gespanns und fragt alle Details über unsere Reise ab. Ich gebe ihm gerne Auskunft und eine Visitenkarte. Vielleicht ergibt sich ja einmal die Gelegenheit, falls wir eine Einladung von ihm bekommen sollten, eine Treckerreise nach Samoa zu machen. Ich glaube aber, Samoa liegt weit, weit hinter Kassel und wird unserem Zetor sicher nicht schmecken.
Die Fähre der „Viking-Line“ lässt keine Wünsche offen. Wir bummeln mit Rolf und Rita über die acht Decks und staunen über die Ausmaße des Schiffes. Wenn ich alleine auf dem Kahn wäre, bräuchte ich sicher einen Blindenhund, um von A nach B zu kommen. Doch Rolf entpuppt sich als ein guter Scout. Er ist Ingenieur für Physik und hat auch schon in China in englischer Sprache Vorträge gehalten. Er hat auch einen sehr trockenen, uns verblüffenden Humor, der bei uns ankommt. Die Silhouette von Helsinki entschwindet unseren Blicken, die Ruderer des Kahns legen einen Zahn zu und ehe wir groß nachdenken können, sind wir schon fast wieder auf festem Land. Natürlich nicht ohne zuvor ordentlich auf Deck 4 getafelt und im Duty-free-Shop auf Deck 7 diverse alkoholische Hamsterkäufe getätigt zu haben. Es ist tierisch heiß, als wir ausschiffen. Ach ja, die Toiletten auf dem Boot haben eine höllischen Krach gemacht beim Spülen. Auf dem offenen Meer darf der Kapitän sich sicher austoben… Ich verzeihe ihm.
Zweieinhalb Stunden später und 80 Kilometer weiter landen wir dann gesund und mental aufgekratzt in der estländischen Metropole. Ein langer Stau nach dem Ausschiffen, der wohl erste VOR uns seit Abfahrt unserer Reise raubt uns den letzten Nerv. Eine gute halbe Stunde brauchen wir von Schiff bis zur ersten Kreuzung. Wir haben uns mit Rolf und Rita abgesprochen, dass wir uns bei der Touristen-Informationsstelle in der Nähe des Hafens treffen wollen. Sie stehen in der zweiten Spur neben und weit vor uns und … wir verlieren sie im Großstadtgetümmel. Jammerschade !
Wir haben aber unsere Handynummern ausgetauscht, um uns nicht ganz zu verlieren. Ich rammele über zwei rote Verkehrsampeln hinweg, nehme einer Straßenbahn fast die Vorfahrt und überfahre eine Blindschleiche, die sich vorwitzig über einen Zebrastreifen wagt. Und das mitten in Tallin. Nun ja, sie konnte nichts dafür. Sie war ja „blind.“
Nach fünf Kilometern wird mir mulmig. Grüne Hinweisschilder weisen auf Autobahnabschnitte hin. Wir sind gebrannt. Und das nicht wenig. Wir fahren rechts raus und befragen einen jungen Mann, ob wir hier richtig sind auf dem Weg zu unserem Campingplatz in „Jüri“ und ob wir auf dieser Strecke weiterfahren dürfen. Er holt seinen Laptop aus dem Kofferraum, klickt die betreffende Landkarte an und weist uns eine Straße zu, die wir gefahrloser fahren können.
Neues aus Estland: „Straße“ heißt auf estländisch „tee“ und wird klein geschrieben. Auch die großen Straßen. Und es gibt sehr viel „Tee“ in Estland. Wir schaffen es fast ohne Mühe, aber mit viel Fleiß über die nächsten 15 Kilometer zu kommen.
Nach gut einer Stunde Fahren und zigmal fragen biegen wir auf einen schmalen Weg nahe „Jüri“ ein. „Kivi Talu“ nennt sich dieser Platz. Ein parkähnlich angelegtes Gelände, künstlerisch aufgewertet durch allerhand Statuen und Gegenstände aus der alten Zeit. Alte ausgemusterte, russische Feuerwehrwagen, Busse und Straßenbahnen und ein kleiner Badeteich geben diesem Platz die besondere Note. Ich würde hier fünf Sterne vergeben, wären die Mücken nicht so anhänglich. Nur ein einziger, weiterer Camper aus Potsdam hat sich hierher verirrt. Dieser Campingplatz verdient es aber, bekannter zu werden. Es ist alles, bis auf die letzte Toilettenschüssel sehr stilvoll und rustikal und liebevoll eingerichtet. Ein regelrechter Kunstgenuss sind die unzähligen Details auf dem gepflegten Gelände sowohl in architektonischer, wie auch in landschaftsplanerischer Hinsicht.
Dieser Platz ist für Paare, sowie für Familien besonders empfehlenswert !!! www.kivitalupuhkus.ee
Nur etwa 50 Meter von unserem Stellplatz suchen zwei Schwarzstörche auf der Wiese nach Futter. Ich mache ein paar Aufnahmen und erfreue mich an dem erhabenen Gestelze der Großvögel. Am Abend kommt der private Besitzer des Platzes vorbei, macht Fotos und schenkt mir einen Aufkleber für den Trecker und Prospektmaterial, um seinen Platz bekannter zu machen.
Wir haben auf der Fähre Wein eingekauft, der erste übrigens seit Anfang April, den ich koste und meine Abstinenz scheint nun dem Ende zuzugehen. Deshalb beschließe ich diesen Tag mit den Worten: „In vino veritas!“ und lege mich schon um Elf auf’s Ohr. Mir saust’s ein wenig im Kopf. Morgen haben wir vor, 120 km durch Estland in Richtung Lettland zu fahren. Estland ist ja nicht groß. Niedersachsen hat eine ähnlich große Ausdehnung. Ich habe noch von dem Platzbesitzer erfahren was „Verrückte Deutsche“ auf estländisch heißt: „Hull Saksla ne !“ Und „Sch…“ heißt auf estländisch „Kurrat küll.“ In diesem Sinne….eine gute Nacht !