3. August
Heute ist ein besonderer Tag. Nicht, weil heute die Woche geteilt wird oder wir einen besonders runden, funkelnden Wein ergattert haben. Nein! Heute vor vier Monaten war Sonntag, dazu noch unser 35ster Hochzeitstag und wir sind zu unserer großen Europatour von unserem Wohnort „Carlsdorf a.d. Lempe“ frohen Mutes und unter Beifall der etwa 150 Anwesenden gestartet. Ja, das war ein wirklich grandioser Abschied von unseren Nachbarn, Freunden, Geschäftspartnern, Verwandten, Mitarbeitern und Treckerfreunden. Wir zehren heute noch von dieser unerwartet freundlichen Verabschiedung und schauen uns oft die Fotos auf unserem Laptop und die nachfolgenden vier Presseberichte an. Heute Abend wollen wir deshalb mit einer Flasche Champagner anstoßen und es uns gut gehen lassen. Die Nacht auf den 3. August verläuft nicht ganz ruhig. Gegen Ein Uhr fängt es von Ferne an zu grummeln, dann blitzt es in immer kürzeren Zeitabständen und donnert dann urplötzlich so stark, dass der Bauwagen bei jedem Donnerschlag vibriert und wir kerzengerade im Bett sitzen.
Schnell schließe ich die drei Fenster, die wir wegen der gestrigen großen Hitze über Nacht halb geöffnet hatten und nehme die laminierten Presseartikel aus aller Herren Länder außen von den Halteklipsen, da sie durch den aufkommenden Sturm abgerissen werden könnten. Dann kommt über zwei Stunden lang ein Starkregen, der sich gewaschen hat. Mit vielen Unterbrechungen geht endlich die aufregende Nacht für uns gegen 7 Uhr zu Ende und wir frühstücken auf der Eckbank sitzend. Draußen regnet es noch immer und wir bedauern die Kindergruppe, die seit gestern mit Fahrrädern mit ihren Betreuern hier zeltet. Wie müssen sich letzte Nacht die 9-11jährigen in ihren Minizelten gefühlt haben, als es so stark donnerte. Doch die Kids sind schon am frühen Morgen genauso lebhaft und gut aufgelegt wie gestern bei Sonnenschein und drehen manchmal zu dritt auf einem Kinderliegerad hockend eine Runde nach der anderen auf den befestigten Wegen um den Campingplatz herum.
Ein älteres Mädchen liest dabei immer wieder laut: “Tante Paula auf Reisen!“ in perfektem Deutsch. Wenn ich so nachdenke über die Sprachen, fällt mir auf, dass wir sehr viele französische Worte in unseren Alltag übernommen haben, ohne dass es uns auffällt. Mir fallen spontan Worte ein wie Manege, Trikot, Blamage, Menage, Rage, Garage, Sabotage, Drainage, Avantgarde, Milieu, Portemonnaie, retour, Vernissage, Logis, Reportage, pardon, Apanage, Flaneur, Charmeur , Trottoire, Chapeau claque, Kuvert, Lampion, Bonbon, Visage, Passage, Plaisir, Jeton, Chauffeur, Reservoir, Ressource, Romance, Repertoire, pasteurisieren, nonchalant, Monteur, Longe, en gros, Engagement usw.
Nach dem Frühstück koppeln wir den Trecker vom Hänger und fahren die 3 km nach „Vermenton“ rüber, um uns im Städtchen etwas umzusehen und auch einzukaufen. Kleinste, verwinkelte Gassen, die gerade einmal zwei Passanten aneinander vorbeigehen lassen, lassen uns viele Fotos machen. Herrlich schön, diese Altstadtecken! Die ganze Stadt kommt uns so vor, als wären wir in einem Freilichtmuseum. Sehr alte steinerne Gebäude, an denen seit Jahrzehnten die Zeit nagt, halten uns gefangen. An vielen Fassaden hängt bunter Blumenschmuck und die Leute scheinen Zeit zu haben. Trotz des Nieselregens sitzen Junge und Alte schon morgens draußen vor den Cafes und schlürfen ihren Cafe mit viel Milch und Zucker und essen dazu ihr Baguette. Auch eine Karaffe Wein steht oft auf den Tischen. Die Franzosen haben halt eine eigene Lebensart, um die ich sie beneide. Wir nehmen uns einfach zu wenig Zeit zum Leben. Ob sich das nach unserer Reise ändert? Ich glaube daran, aber Barbara zweifelt an meinem Vorsatz. „Carpe diem!“ Nach dem ausgedehnten Bummel besorgen wir uns noch einige hübsche Aufkleber von der Gegend um „Auxerre“ in einem Tabakwarengeschäft. Noch ist viel Platz auf der Traktorhaube und auch an der Kabinenoberseite. Wir wollen schön „bunt“ im Oktober in unseren „Heimathafen“ einrollen.
Ein Ärgernis gibt es alle Tage. Die Schrauben, mit denen ich seinerzeit die Schautafeln befestigt habe, lockern sich bei jeder neuen Fahrt. Einige Vorbeifahrende werden sich sicher gewundert haben, wenn sie mich auf einem Parkplatz mit einem Schraubenzieher haben stehen sehen, wie ich verzweifelt mit dem ausgestreckten rechten Arm versucht habe, die obersten Holzschrauben nachzudrehen, die sich in einer Höhe von 2,70 Metern befinden. Irgendwann wenn es mir zu bunt wird, werde ich alle herausziehen und mit Kleber neu einschrauben. Denn das tägliche Gefummele ist sehr nervig. Barbara putzt am Nachmittag, als der Regen nachgelassen hat und die Temperatur wieder auf 23 Grad gestiegen ist alle Scheiben des Traktors, außen und innen. Das braucht schon seine Zeit bei zwölf Glasflächen und die Arme werden beim Feudeln lahm. Gegen 17 Uhr kommt auch schwach die Sonne heraus und wir können auf der Wiese unter dem Erlenbaum neben unserem Gespann Kaffee trinken. Die Ruhe tut uns einfach gut. Ein Engländer, der aus Leicester stammt und nebenan im Zelt mit seiner Ehefrau campiert spielt schöne Weisen auf einer hölzernen Zither. Er interessiert sich sehr für unsere Reise und ich kann ihn dazu gewinnen, sich in unser Gästebuch einzutragen. Er spricht außer seiner Muttersprache auch noch Französisch und Niederländisch. Unsere Gesichter dagegen sprechen oft eine andere Sprache, wenn die Fahrt zu lang und die Hitze zu groß war. Doch heute strahlen sie Zufriedenheit aus. Barbara schimpft aber jedes Mal, wenn ich Franzosen mit einem oder auch zwei Augenzwinkern den Grund unserer Reise beschreibe. Ich sage dann schlicht und einfach mit einer gespielten Überzeugung in der Stimme: „Tour de l’Amour, Monsieur, Madam!“ Und alle geben sich gerne mit einem wissenden Schmunzeln mit dieser Antwort zufrieden. Außer Barbara natürlich. Aber was soll ich denn sonst mit meinem Unvermögen in der französischen Sprache erklären? „Malheur de Merde“ etwa? Besser nicht. Wir bummeln an der „La Cure“ entlang in Richtung des Dorfes „Acculay“ und haben Abwechslung auf unserem Abendspaziergang, indem ein paar Flusskapitäne mit einer Handvoll ausgesuchter sicher nicht unvermögender Passagiere in 20Meterbooten vorüberziehen. Auf dem kleinen Deck wird natürlich stilvoll Champagner geschlürft und gnädig zurück gewunken.
Dann hören wir Musik weiter vorne und ehe es wir uns versehen, stehen wir inmitten eines kleinen Rummelplatzes mit Ständen, die Wein, Crepes, Trödel, Geschirr und billige Kleidung feilbieten. Wir genehmigen uns ein Gläschen von dem weißen Trockenen und bekommen Appetit. Vis a vis bruzzeln fette Poularden an einer Stange. Das duftet vielleicht. Ich bestelle eine der braungebrannten Riesenvögel. Leider dauert es noch mit dem Garen etwa 45 Minuten und so hören wir dem Lifemusiker zu, der englische und alte französische Kamellen spielt.
Zu uns setzt sich unter das offene Zelt ein Ehepaar, das heute Nachmittag erst auf dem Campingplatz angekommen ist. Es stellt sich nach kurzer Begrüßung heraus, dass sie zwar in Frankreich seit Jahren Zuhause sind, aber eigentlich Neukaledonier sind. Neukaledonien ist eine Inselgruppe bei Australien. Endlich ist die Poularde gar und wir ziehen im Laufschritt mit dem gebratenen, heißen Vogel zum Platz zurück, denn es ziehen schwarze Wolken auf. Dann aber verbeißen wir uns gierig bis auf die letzte Gräte in den Braten, bis nichts mehr in den Magen reingeht. Zum Dessert gibt es halbierte Pfirsiche aus der Dose. Da muss ja Morgen wieder die Sonne scheinen bei so viel Lebenskraft. Unser Nachbar zur Linken campiert in einem Minizelt. Er sitzt komischerweise auf einem weißen, billigen Gartenstuhl vor einem hölzernen, alten Küchentisch, schaut stumm vor sich hin mit seiner Nickelbrille und zieht unentwegt an seiner gebogenen Tabakspfeife. Er ruft mir etwas auf Deutsch zu. Ich gehe zu ihm herüber und beginne ein Gespräch. Der alte Franzose spricht ein sehr gewähltes, vornehmes Deutsch und scheint auch sonst sehr gebildet zu sein. Nebenan an einen Baumstamm gelehnt steht sein altes Rad. Er sieht sehr interessant aus. Ich schätze ihn auf etwa 70 Jahre. Auf seinem Tisch ist alles nass geworden und Kleidungsstücke, Reste von Mahlzeiten, aufgeweichte Zeitungen und allerlei Krimskrams türmen sich auf. Auch einige Wein-und Wasserflaschen und eine offene Packung mit Würfelzucker, an denen sich die Bienen gütlich tun.
Er stellt mir die Frage, ob ich sein Lebensalter erraten könnte. Ich verneine, obwohl ich Siebzig für angemessen halte. 86 Jahre alt ist der Knabe. Es ist nicht zu fassen. Er habe sein ganzes Leben gut gegessen und gut getrunken und immer geraucht und auch die Frauen nicht verschmäht. Ein erstaunlicher Zeitgenosse, der einen Urlaub mit spartanischsten Mitteln hier in der Bourgogne unter einem Ahornbaum verbringt. Zum Essen radelt er ziemlich flott ins Dorf, einen Wassereimer an den Lenker gehangen. So möchte ich auch alt werden. Nur seine chronische Erkrankung möchte ich nicht haben wollen. Es ist schon ein Erlebnis, wenn man ihn auf’s Fahrrad steigen sieht mit zittrigen Beinen und Händen. Aber er scheint glücklich zu sein. Das allein zählt!