27. Mai
Diesmal winkt uns niemand nach, als wir unsere acht Räder ins Rollen bringen. Wir nehmen aber eine angenehme Erinnerung mit. Schon morgens um Sieben war eine Reinemachefrau zu Gange, die penibel alle Räume wieder auf Vordermann brachte. Das haben wir auch noch nicht erlebt bisher. Es waren mit uns doch nur vier Gäste anwesend. 101 km sind zu fahren. Nur 101! Ein „Klacks“ für uns Langstreckenschleicher. Wir fahren auf die nächste Kreuzung und biegen auf die Reichsstraße Nr. 5 ein. „Kajaani“, eine Stadt am Fluss „Kajaanijoki“ gelegen, der hier in den See „Oulujärvi“ mündet, der doppelt so groß ist wie der Bodensee, streifen wir nur am Rande. Es scheint hier viel Industrie zu geben, wie wir von ferne an den Schornsteinen sehen können.
Barbara spielt mal wieder während der geruhsamen Fahrt an einem unserer beiden Navigationsgeräte herum und teilt mir dann mit, wir wären genau „nur“ noch 1943 km von Hofgeismar, unserer Heimatgemeinde entfernt. Schlappe drei Wochen Fahrt, rechne ich aus. Sie ist wohl ihrer Zeit ein wenig voraus. Ich dagegen bin der „Zeit zurück“ und denke an die vielen wunderbaren Menschen, die wir kennenlernen durften und die wir hoffentlich nie oder wenigstens lange nicht vergessen werden. Unser beider Tagebuch wird uns immer daran erinnern. Und ich erinnere mich an die unzähligen Gegenden und Landesecken, die wir durchfahren haben. Ohne Panne!
Es gibt meiner Meinung nach keinen Platz auf dieser Erde, der es nicht verdient hätte, positiv erwähnt zu werden. „DER HIMMEL IST ÜBERALL!“ Und wenn er mal nicht zu sehen ist, dann haben wir ihn doch alle in unserem Kopf und in unserem Denken, oder? Es ist eine Sache der Einstellung und der Lebensphilosophie, wie man seine Umwelt und seine Lebensnachbarn darin sieht. Man muss nur offen gegenüber allem sein. So kann man nicht enttäuscht werden vom Leben. Ich bin es jedenfalls nicht und dem dankbar, der seine Hand bisher immer schützend über meine Familie und mich hielt. Gerne würde ich etwas von meiner Lebensfreude denjenigen abgeben, die verzagt, entmutigt, einsam oder enttäuscht sind. Man kann nur das anderen vermitteln, was man selber erlebt hat. Viele Menschen haben Schlimmes erlebt. Wie könnten sie da Lebensfreude versprühen? Man ist auch viel zu schnell geneigt zu sagen, ich kann es dir nachfühlen oder, ich verstehe dich, obwohl man nie in derselben Situation war. Das liegt einfach in unserer Natur. Ich fühle mich in meiner derzeitigen Situation sehr wohl und hoffe, dass dieser Zustand noch recht lange anhält.
So, nun wieder zur Realität und die Augen geöffnet. Das Leben hat uns soo viel zu geben!
Die die Straßenränder säumenden Birken, die im frischen, hellgrünen Frühlingsgrün stehen machen das Herz weit und öffnen den Mund. Man möchte einfach singen oder still schweigen. Ich schweige zuerst und singe dann. Barbara meutert. Sie hat wohl da vorne auf ihrem Notsitz auch die Ohren geöffnet… Und jetzt auch noch den Mund.
Als wir die erste Pause nach drei Stunden einlegen und unsere Tasche mit den Broten und den Getränken heraus holen, ist eine Plastikflasche mit Saft ganz leer. Ob wir einen blinden und dazu auch noch durstigen Passagier bei uns haben? Ich schaue mich um. Da liegen nur unsere beiden roten Outdoor-Jacken hinter meinem Sitz. Und daraus … tropft es. Eine Flasche ist an der Seite gerissen und der leckere Himbeersaft hat sich in alle Winkel des Futters verkrochen. Auweia! Macht nichts, kann man wieder auswaschen. Wir können ja bei Kälte unsere „Indoor-Jacken“ tragen. Sagt man wirklich „Indoor-Jacken?“ Ein wenig Flüssigkeit aus der einen Jacke tropft auf meine „Outdoorschuhe“ auf die „Outdoorschnürsenkel“ und auf meine roten „Outdoorsocken.“ Ich habe aber noch im Hänger meine „Indoorschuhe“ und „Indoorsocken“. Wir sind wieder ganz „indoor“, als wir eine Tankstelle „outdoor“ anfahren, um uns fehlende Lebensmittel zu besorgen. Heute Abend soll es Matjesheringe und Pellkartoffeln geben. Auch zwei Büchsen Bier sollen es sein. Es gibt in Suomi Bierdosen mit einem Inhalt von 0,33 Liter und … 0,568 Liter. Die große Dose zu 2,40 Euro. Norwegen war sehr viel teurer. Übrigens…auf finnisch betont man stets die erste Silbe, wie z.B. Suomi.
Wenn man so eine Weile auf den breiten und verkehrsarmen Landstraßen dahinzuckelt, schaut man immer wieder aufmerksam in den Rückspiegel, weil man zuweilen durch das sich verstärkende Geräusch, das von hinten kommt, glaubt, ein Truck käme vorbeigerauscht. Doch es sind lediglich die Spikes in den Reifen der PKWS, die solch einen Lärm verursachen. Auch in Finnland darf man bis Ende Mai noch mit Stahlnägeln in den Pneus fahren. Nordfinnen dürfen es mit Sondergenehmigung, wenn sie nachweisen, dass sie jenseits des Polarzirkels wohnen noch länger.
Juhani, zu deutsch Johann, schenkt mir ein paar Aufkleber für den Trecker. Riitta bedauert, dass es keine Wlan-Verbindung bei ihr gibt, aber sie bringt mir einen Stick aus ihrem Wohnhaus runter auf die Wiese, den ich bis zum nächsten Morgen benutzen darf. Später merke ich, dass die Verbindung dermaßen schlecht ist, dass ich aufgeben muss. Sie telefoniert auch für uns mit dem nächsten Stellplatz, der bei einer Tankstelle im Ort“Lapinlahti“ liegt, um zu fragen, ob wir da Morgen willkommen sind. Es ist kein öffentlicher Platz, eher etwas für Trucker und wir sind die Ausnahme dort, aber sie sagt, es wäre in Ordnung. Es sind nur 63 km von hier. Der andere Platz in der Stadt „Kuopio“ wäre 124 km entfernt. Mir schmerzt schon seit Tagen mein Genick durch den alten Bandscheibenvorfall und ich will mit meiner Gesundheit haushalten. Wir sind ja nicht auf der Flucht, wie ich schon einmal bemerkte und müssen nicht täglich über 100 km fahren. Wenn ich als Fahrer ausfalle, dann war es das. Reihenweise reihen sich reihernde Reiher um den See und lauern auf mit Fleisch ummantelte lebende Grätengerüste. Dann erscheint ein Ägypter mit seiner Familie. Die beiden Kleinen sehen ganz reizend aus. Hübsche Gesichter mit wachen, offenen, schwarzen Augen. Wie gemalt. Ich fotografiere sie mehrmals. Der Mann spricht gut englisch, lebt in Helsinki, hat bis vor kurzem eine Pizzeria betrieben und wieder aufgegeben. Jetzt verdient er sich sein Geld mit Kunstmalerei und entspannt einige Tage mit seiner Familie hier an diesem erholsamen Ort in Ostfinnland.
Riitta, die etwas deutsch spricht und auch ein gutes englisch trägt sich in unser Gästebuch ein. Ebenso eine weitere Frau, die aus Tampere kommt und mit ihrem Ehemann im Restaurant essen war. Sie schreibt mindestens zehn Minuten in einer sehr feinen Handschrift und bewundert dabei lächelnd unsere Rentner-Bude. Leider kann ich nichts lesen. Finnisch ist ein Buch mit acht Siegeln! Ich höre, dass „Deutschland“ in der Sprache der Finnen „Saksa“ heißt. Also kommen wir aus Saksa. Und wenn wir nicht gerade aus Hessen kämen, sondern aus Sachsen wären wir die Sachsen aus … Lustig!
Alle haben uns vor den Mücken gewarnt. Wir sehen fast keine. Wir sind ja auch Ausländer und denen tun sie nichts. Mücken nennt man auf Ostfinnisch „Itikka.“ Die Westfinnen haben dafür einen ganz anderen Ausdruck, den ich wieder vergessen habe. Zu schwer für Saksazungen! Noch etwas erfahre ich auf mein Nachfragen, obwohl…ich sollte es besser nicht schreiben. Ich tue es doch. Das Wort “Verdammt noch mal!“ heißt in dieser Sprache „Perkele!“ Klingt ferkelig, oder? Man weiß ja nie, wo man mal so ein Unwort brauchen kann.
Am Abend erscheint nochmals der Ägypter mit einem großen Kescher in beiden Händen. In ihm zappelt ein gerade von ihm im See gefangener sechs Kilogramm schwerer Hecht. Es ist nur ein Kleinerer, meint er abwertend. Die Größten hier haben 9-11 kg. Ich staune und Barbara wendet sich ab. Sie sieht die Fische lieber im Wasser schwimmen als im Fett in der Pfanne. So frage ich den Ägypter auch besser nicht nach, ob er wohl ein klitzekleines halbes Kilochen für uns… Barbara schläft auf dem Bett schon um Acht ein.
Sie nimmt die Reise mehr mit als mich. Ich sitze noch bis 23 Uhr am Laptop und schreibe diesen Bericht.