Polen – 21.06.11

21. Juni

Wie gerne wären wir jetzt bei Gudrun und Dieter in Föllinge im schwedischen Jämtland, um mit beiden das große Mittsommerfest zu feiern. Heute beginnt kalendarisch der europäische Sommer. Die Sonne scheint auch und wir haben Aufbruchstimmung. Schon um halb Neun, noch vor unserem Frühstück,  kommt Janek auf seinem klapprigen Fahrrad angefahren und besucht uns. Er hat Wehmut in seiner Stimme, wenn er von den alten Zeiten spricht. Er begleitet mich zu einem der drei Dorfläden, weil ich Marmelade einkaufen will. Er kann nicht begreifen, dass es in unserem Dorf zu Hause keinen Laden mehr gibt. In jedem Dorf in Polen ab etwa 300 Einwohnern gäbe es mindestens noch einen Dorfladen. „Wie sollen denn sonst die alten Leute einkaufen gehen?“ sagt er entrüstet. Ich schweige und denke mir: Die Polen sind uns Deutschen in dieser Beziehung doch weit voraus.  Janek wischt sich über die Augen, als ich ihm zum Abschied ein „gutes Leben“ wünsche und radelt davon.

Er hat mir noch vieles erzählt von seinem Dorf und seiner Geschichte und von den Russen, die 47 Häuser niedergebrannt haben und von der guten, aber schweren Nachkriegszeit und von der damaligen Zwergschule, die heute ein Motel beherbergt und von der Kanalisation im Dorf, die letztes Jahr angelegt wurde. Die Kinder hier im Dorf müssen 18 km weit mit dem Bus fahren, um zur Schule zu kommen und früh aufstehen, um den Bus nicht zu verpassen. Auch in Polen steht die Zeit nicht still. 

Hauptverbindungsstraße von Dorf zu Dorf, leider etwas verwackelt
Hauptverbindungsstraße von Dorf zu Dorf, leider etwas verwackelt
Die Bahnübergänge haben's in sich
Die Bahnübergänge haben's in sich

Ich quäle mich den ausgefahrenen Sandweg hoch zur Dorfstraße. Der Bauwagen bekommt eine gefährliche Schräglage, noch mehr als bei der Einfahrt gestern nach unten und schaukelt wie wild. Barbara erwartet mich oben am Hang. Sie scheint doch gehofft zu haben, dass unsere Reise ihren Fortgang nimmt und klettert die beiden Treckerstufen hoch auf ihren „Spähsitz.“ Noch einmal fahren wir gezwungenermaßen die gleiche Strecke zurück über Susz, um nach Westen zu kommen. Ich fluche in allen Sprachen, die mir geläufig sind und halte unser Gespann krampfhaft in der Längsspur.

23 km lang geht das so.  Kein Honigschlecken.

Auch etwas typisch Polnisches: Vor den meisten unbeschrankten und unbewachten Bahnübergängen steht ein Stoppschild. Jeder Pole hält hier auch brav an und schaut nach links und nach rechts, bevor er weiter fährt. Die Übergänge selbst sind nur mit artistischem Feingefühl zu überqueren. Die Schienen stehen weit über der Fahrbahn und es wird tatsächlich von allen Schritt gefahren. Weitere Bemerkungen erübrigen sich.

Barbara hat auf der Landkarte den kürzesten Weg ausgesucht, der zum nächsten Campingplatz führt. Bei „Grudziadz“ soll er liegen. Kurze Wege bedeuten aber auch immer einen langen Atem. Den bekommen wir reichlich, haben ihn aber nicht (mehr). Von Kleinkleckerdorf über Großnirgendwohausen die Berge hoch, die Berge runter und immer schön in den kleinen Gängen bleiben, damit ja nichts bricht. Es kotzt mich inzwischen an, nicht voranzukommen. Ich könnte brechen. Zwischendurch, wenn wir nach einer Stunde Fahrt 13 Kilometer geschafft haben, hole ich den Schraubenzieher aus dem Alukasten und ziehe die fast losgenudelten Schrauben der Schautafeln außen am Bauwagen wieder fest. Sie lockern sich zusehends. Ich werde mir etwas einfallen lassen müssen.

Der Rhabarber schießt in allen Gärten in die Höhe und auch der Salat beteiligt sich ohne Waffenschein daran. Über „ Prabuty“ und „Kwizyn“ eiern wir im Schneckentempo die schmale Landstraße entlang. 95 Kilometer sollten es heute werden und nur 6 Stunden Fahrt. Weit gefehlt. Die Verbindungen von Weiler zu Dorf zu Gehöft zu Flecken zu Ansiedung sind teilweise so schlecht, dass ich nach der sechsten Stunde aufgebe. Ich bleibe einfach auf offener Strecke stehen, schalte den Motor ab, verschränke trotzig die Arme und schweige still. Meine liebe Frau aber treibt mich wieder sofort auf die Rennpiste. „Es sind doch nur noch 30 Kilometer!“ brüllt sie entnervt, so dass die letzten Rehe in Panik davon stieben. „Du kannst doch hier nicht einfach mitten auf der Straße anhalten!“ Kann ich doch!

30 Kilometer?
130 Minuten?
Sch…!

Die Fähre über die Weichsel ist viiiiel zu kurz für unser Gespann
Die Fähre über die Weichsel ist viiiiel zu kurz für unser Gespann
Wir sind auf dem Weg dahin...
Wir sind auf dem Weg dahin...

Wir suchen uns einen Weg über die Weichsel. Es gibt zwei Fährverbindungen. Die Eine liegt fast schon vor uns, die Andere 30 Minuten weiter südlich. Und über die Weichsel müssen wir, um weiter nach Westen zu kommen. Über die Memel in Kaunas in Südlitauen sind wir ja auch problemlos gekommen. Über eine Brücke. Wir stellen uns in der Schlange der cirka 12 PKWS an, die wartend vor der Fähre stehen. Dann sehen wir das Schiff(chen). Maximal 3 Autos kann es mitnehmen und bei 5 Tonnen Gewicht hört der Spaß auf, lesen wir auf einem Schild. Wir bringen fette 6,5 Tonnen auf die Waage. Ein junger Pole gibt uns einen heißen Tipp. Wenn wir dem Fährmann nur genügend Geld geben würden, ihn praktisch schmieren, würde er ganz sicher ein Auge zudrücken und uns auch mit auf die andere Seite nehmen. Mit Geld ginge vieles in Polen, bedeutet uns der hilfsbereite Pole.

Wir schätzen ab: Eine Fähre hin und zurück dauert etwa 30 Minuten. Wir sind an dreizehnter Stelle. Macht zwei Stunden Wartezeit. Es ist schon nach 15 Uhr. Eine alte Frau kommt uns mit einem Fahrrad entgegen und ruft entgeistert aus: „Zirko, Zirko!“ Ich entgegne ihr: „Nie Zirko, nie Roma, normal Niemci!“

Und dann messen wir mit zusammengekniffenen Augen die Gesamtlänge des Kahns ab. Unser Gespann hat 11 Meter 60 Länge. Der Kahn auch. Mit dem Rettungsboot zusammen. Wir sehen aber sehr deutlich, dass das Hinterteil unserer lieben „Tante Paula“ unter Wasser mitfahren müsste. Tantchen mag aber keine kalten Füße. Was tun? Es gibt eine winzig kleine Ausweichstelle an der Seite mit vielen Löchern und Erhebungen, wo wir auf dieser schmalen Straße wieder wenden könnten. Sand ist die Unterlage am Rand. Und spitze Steine en Mass. Drei Polen setzen ihre Wagen bereitwillig zurück, bzw. vor, damit ich drehen kann. Es gelingt erst, nachdem Barbara die Zuleitungskabel wieder mal abgenommen hat. Sie wären sonst wegen des engen Radius gerissen. Enttäuscht tuckern wir zu der nächsten Fähre.

Ich bin durchgeschwitzt. Die Sonne brennt. Ich trage Shorts und kurze Hosen. Der Gasfußrücken ist verbrannt, da die Sonne unerbittlich von rechts darauf brennt. Barbara legt mir einen Schal darüber. Es ist nicht weit bis zum nächsten Anleger. Nur 11 km, nur 45 Minuten. Dort angekommen, gibt es zwar Hinweise auf die Verbindung über die Weichsel, jedoch kein Schiff ist in Sicht. Wir befragen einen Eingeborenen. Der erklärt uns mit Händen und Füßen, die Fährverbindung nach drüben wäre wegen Bauarbeiten am Ufer bis zum Herbst eingestellt. Unsere Ohren hängen auf der Hüfte und die Worte kleben im Hals. So kommen wir nicht weiter. Schwimmen? Mit Tantchen? Besser weiter am Damm entlang nach Süden holpern. Unseren Platz können wir heute nicht mehr erreichen. Es wären noch immer 40 km, also 3 Stunden bei diesen Straßenverhältnissen. Wir geben schon nach 10 km auf.

Die polnischen Friedhöfe sind ein einziges Blumenmeer
Die polnischen Friedhöfe sind ein einziges Blumenmeer
In "Gardeja", unserem Stellplatz an einer Tankstelle werden wir vom Chef persönlich gut bewirtet
In "Gardeja", unserem Stellplatz an einer Tankstelle werden wir vom Chef persönlich gut bewirtet

Bei der polnischen Kette „Biedronka“ decken wir uns mit Lebensmittel ein. Eine Tankstelle kommt in dem Ort „Gardeja“ in Sicht.   Sie scheint neu zu sein und verspricht ein Bistro, ein WC und einen Laden. Barbara hat d i e Idee. „Ich gehe jetzt in die Tankstelle und frage nach, ob wir uns für eine Nacht dahinter aufstellen können!“ Gesagt, gefragt. Wir erhalten die Erlaubnis, uns hinter der  Tanke auszubreiten. Wir tanken und gehen ins Bistro, um etwas zu essen. Der Wirt, ein etwa 65jähriger, kleiner Mann mit offenem Gesicht und mit einem starken Gehfehler bereitet uns ein leckeres Essen zu. Ich schlürfe in drei Zügen ein kaltes Bier in mich hinein und merke nach wenigen Minuten den Alkoholgehalt des polnischen Biers. Es hat 7,8% Alkohol und ich war fast nüchtern im Magen. Jetzt nicht mehr. Der Mann ist sehr nett zu uns. Wir bekommen sogar Strom von ihm durch ein vergittertes Fenster hinter dem Bistro und Wasser. In die einzige Toilette muss man einen Zloty in einen Automaten werfen, damit man hinein kommt. Bis 22 Uhr kann man noch zur Toilette gehen. Danach muss man es sich verkneifen. Dann will er abschließen und nach Hause radeln. Wir kaufen noch ein paar letzte Lebensmittel an der Tankstelle ein.

Was auch auffällt hier in Polen: Man wird betankt!  Auch der Tankwart hier kam eilfertig angelaufen, um uns den Tank zu füllen. Superservice in Polen! Ein Trucker mit einem Riesenschiff fährt später noch gegen 23 Uhr vor und schickt sich an, ebenfalls hier neben uns in seiner Kabine zu nächtigen. Wir stehen auf neuer Teerfläche, es ist alles sauber ringsherum, wir sind satt und zufrieden, nicht mehr weiterfahren zu müssen und es ist relativ ruhig hier hinter dem Gebäude.

Die Polen verstehen es vortrefflich, ihre Gäste zu bewirten
Die Polen verstehen es vortrefflich, ihre Gäste zu bewirten

Direkt neben der Tanke liegt der große Friedhof der kleinen Stadt. Wir besuchen ihn am späten Abend. Uns fallen besonders die üppig ausgelegten Plastikblumen auf den Gräbern auf und  die marmornen Abdeckplatten, denn kein Grab ist mit Erde abgedeckt. Die vielen ewigen Kerzen, die in der Abenddämmerung eine ganz eigene Stimmung verbreiten flackern unruhig im leichten Abendwind. Auch liegen die Toten wahllos mal in der einen, mal in der anderen Richtung nebeneinander oder auch gegeneinander. Als Lebende waren sie ja auch nicht uniform, denke ich mir und begrüße diese Ordnung in der polnischen Begräbniskultur. Ein einziges leuchtendes Blumenmeer sind diese polnischen Friedhöfe und man kommt beim Betrachten der Grabstätten gut zur Ruhe. Vor einigen Gräbern sind niedrige Bänke in den Boden eingelassen zum Kniegebet.

Wenn nur die Straßen nicht so schlecht wären, ist mein einziger nächster und immer wiederkehrender Gedanke. Vielleicht sind einige Bürger in die Schlaglöcher gefallen und liegen deshalb schon so früh im kühlen Grab. Ja, es gibt tatsächlich viele viel zu jung gestorbene Menschen auf diesem Kirchhof, wie man an den Lebensdaten ablesen kann.

Wir legen uns gegen Mitternacht schlafen.

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