11. Juni
Das Hotelpersonal steht versammelt vor dem Haupteingang und winkt uns zu. Natürlich nicht, ohne alle verfügbaren Kameras aufgetrieben zu haben. Es ist immer wieder ein sehr angenehmes Gefühl, als Fremder, quasi als Ausländer so herzlich willkommen geheißen und auch wieder verabschiedet zu werden.
Es ist der sechste Tag in Folge, wo es so unerträglich heiß wird. Von den ungezählten Mückenstichen der letzten Tage kribbelt die ganze Haut und man möchte sich ständig kratzen. Die hier käuflichen Insektenabwehrsprays haben zwar etwas die Plagegeister abgewehrt, aber richtig geholfen haben sie uns nicht. Besonders unsere Fußrücken sind mit lauter roten Pusteln übersäht. Wir sitzen in Shorts und Sandalen auf unseren Sitzen. Mein Hemd ist vorne ganz aufgeknöpft, die weiße Kappe hängt an einem Haken. Wir verbrauchen auf 20 Kilometern einen ganzen Liter (Saft). Wie viel wir wieder davon abgeben, ist an unserer Restkleidung sichtbar. Nach 75 Fahrkilometern geben wir auf. Wir sind restlos austranspiriert und die Sonne steht hoch am Mittagshimmel. Wir müssen besonders heute wie Vagabunden ausschauen, so fallen die Blicke der Einheimischen auf uns.
Hinter der Kleinstadt „Carnikava“ endlich der Platz, der auch im ADAC-Führer beschrieben wurde. Ein LKW-Fahrer, den wir am letzten Rastplatz nach dieser Stelle befragt hatten, steht plötzlich am Straßenrand und winkt wie wild mit der Hand. Rechts rein, heißt die Bewegung. Wir blinken und winken und sind erfreut und erstaunt über die Mühe, die sich dieser lettische Fahrer mit uns Ausländern gemacht hat. Letten eben! Direkt etwa 50 Meter von der Hauptstraße entfernt mit einem 20 Meter breiten Sandstrand und einer großen Liegewiese. Der Platz trägt den Namen „Kamping Dzirnezers.“
Ein älteres Ehepaar kommt auf uns zu. Sie begrüßen uns in…Russisch! Kein Wunder bei knapp 30% Russen, die im Land leben. Aber die Frau spricht auch ein wenig Deutsch. Wir werden eingewiesen und tuckern einen ziemlich steilen, unebenen Pfad zum großen See hinunter. Rostige hochstehende Eisenschwellen sind über den Weg gelegt. Aber unten am See: Traumhaft, einfach traumhaft! Wir stehen allein unter Kiefern nur 40 Meter vom Badestrand entfernt. Ein Schwan zieht seine Runden auf dem etwa einen Kilometer langen und etwa 800 Meter breiten, ruhigen See. Uralte, verrostete Boote dümpeln am seichten Ufer, Ruhebänke sind überall aufgestellt und auch genügend Grills für die Badegäste.
Wir fragen nach dem Preis. 10 Euro nur kostet alles zusammen für eine Übernachtung. Die Vögel zwitschern, die Enten schnattern, das Schilf bewegt sich leise im Wind und es herrscht eine himmlische Ruhe. Nur die Heerscharen der Stechmücken stören die Idylle. Wieder mal haben wir unerwartet Glück mit dem Stellplatz. Schöner kann man nicht stehen. Grandios, die Natur um uns herum. Wir fragen auch nach den sanitären Anlagen. Der Besitzer fragt mich in schlechtem Englisch radebrechend, ob wir im Wagen eine Toilette und eine Dusche und eine Waschgelegenheit haben. Seltsame Frage an einem Campingplatz, der sogar im Reiseführer steht. Er deutet mit einer weiten Handbewegung in den Wald und sagt nur mehrmals ein Wort: bad, bad, bad! Schlecht, schlecht, schlecht! So, so, der Wald ist wohl ein Schlechter, oder? Wir werden es herausfinden. Und dann ist es soweit. Die Stunde der Erleuchtung soll uns viel Wissenswertes über die besondere Hygienekultur an diesem Orte bescheren.
Habe ich schon einmal in meinen Reiseerzählungen über sanitäre Anlagen berichtet? Wenn nicht, dann merke der geneigte Leser jetzt besonders auf. Wir spazieren an fast verfallenen Holzhütten vorbei, die in der Sowjetzeit sicher einmal für ausgewählte und verdiente Genossen Ferienunterkünfte waren. Vor einigen Hütten stehen kaputte, verblichene und von Regen aufgequollene Küchenstühle, halbe Eckbänke mit ausgerissenen Plastikbezügen und eingebrochene Veranden.Überall Gerümpel und Unrat.Es muss mal sehr schön gewesen sein in diesen Hütten.Aber der Wald hat sich mit der Zeit zurückgeholt, was ihm gehört.
Auf einem sehr buckligen Waldpfad, den man im Dunkeln besser nicht betreten sollte, gelangen wir zu einer Backsteinruine von etwa 3×3 Metern Außenmaß. Eine kyrillische, kaum noch lesbare Schrift auf einem angenagelten Blechschild könnte entweder ein Warnschild sein oder auch ein Hinweisschild. Selbstschussgefahr? Die Backsteinwand ist auf der einen Seite mit allerlei Zeichen bemalt. Einige Steine sind herausgebrochen. Das Blechdach hängt schief darüber. Wir können leider diese Runen nicht entziffern und treten in Erwartung, eine großartige Entdeckung zu machen, langsam näher. Wir wissen aus dem Reiseführer, dass das Zeichen für den Mann ein nach unten zeigendes Dreieck ist und das für die Frau ein nach obengerichtetes in Lettland. „D“ und „H“ oder „Ladies“ und „Gentleman“ gibt es nicht.
Das war sicher einmal in Zeiten des „Kalten Krieges“ die Toilettenanlage in der Waldcampinganlage für versprengte russische Rekruten. Nun ist es nur noch Relikt aus einer vergangenen Zeit und dient der Anschauung und vielleicht auch der Abschreckung. WEIT gefehlt !!! Und nun kommt’s! Ich taste mich vor.
Eine einzelne, fliegenkotbehaftete Glühbirne schaukelt über dem Eingang, der eigentlich keiner ist hin und her. Eine korrodierte Elektroleitung führt zwischen den Baumkronen hindurch zu den Hütten. Halbdunkel empfängt mich. Es gibt keine Eingangstür und kein Fenster. Im Inneren eine halbhoch gemauerte Zwischenwand aus schlecht zusammengefügten Backsteinen und eine grob zusammengefügte Holzwand. Nanu? Keine Tapete oder Putz an der Wand, kein Spiegel, kein Waschbecken, keine …Toilette ? Um ein Haar wäre ich in ein fünfzig Zentimeter großes Loch im Boden getreten. Das ist ja sehr gefährlich hier, denke ich und sehe im nächsten Moment, als sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben zwei links und rechts neben dem tiefen Loch, dessen Boden man nicht erkennen kann, zwei auf dem Boden eingelassene Backsteine. Nicht größer und nicht kleiner als Backsteine eben sind. Daneben steht ein weißer offener Plastikeimer mit verrostetem Henkel mit undefinierbarem Müll. Und …ein 20 Zentimeter langer Rostnagel, der in eine Fuge der Backsteinwand schief hineingetrieben wurde. Daran hängt… eine halbe Rolle Toilettenpapier. Als ich das Papier ein wenig abrolle, fällt eine ganze Generation junger Stechmücken quasi „aus der Rolle“ und will mich angreifen. Das darf nicht wahr sein!
Nebenan im zweiten offenen Raum durch eine Bretterwand getrennt und in Hörkontakt die Toilette für das Geschlecht mit dem nach obenstehenden Dreieck. DAS soll die Toilette für Damen und Herren sein? Eine mittelalterliche Hocktoilette? Ohne Haltegriffe? Und ohne weitere Einrichtungsgegenstände? Barbara schaut mich betreten an. „Hier werde ich nicht ein einziges Mal reingehen!“ meint sie. „Bei dem Gestank auch!“ Ihre Bemerkung gibt mir Gewissheit, dass dieses stille Örtchen tatsächlich noch in Betrieb sein muss. Aber bitteschön von wem ? Und Barbara klärt mich weiter auf. „Der Eimer, mein Lieber, der Eimer dient dazu, das benutzte Toilettenpapier aufzunehmen! Das habe ich mal irgendwo gelesen!“ Nicht doch! Ich besehe mir den halbgefüllten Eimer näher und bestätige darauf ihr universelles Wissen.
Liebe Leser, ich habe ja nun schon viele Toilettenanlagen europaweit von meinen früheren „Entdeckungsreisen“ her besucht. Ich kenne Stehtoiletten, wo es eine Tür gibt, Haltegriffe und einen Eimer Wasser, der daneben steht. Aber dies hier…ist das a b s o l u t e Highlight dieser Reise. Da will ich, da MUSS ich einfach ein, zwei Fotos davon ins Netz stellen. Ich fotografiere alle verborgenen Winkel in dieser lettischen Bedürfnisanstalt aus der Zeit des „Kalten Krieges.“ Ha, das werden Erinnerungen sein!
Wir beschließen spontan, bei gewissen körperlichen Regungen den uns umgebenden Wald aufzusuchen und bei zu starker Transpiration den See. Wenn nur die verdammten Stechmücken nicht wären! Aber, wir haben uns ja mit Abwehrsprays in Estland ausreichend eingedeckt. Weiter geht’s auf der anderen Seite des Waldes zur Waschanlage. Ein Witz, das Konstrukt mitten im Kiefernwald. Zwischen hochgewachsenen Waldgräsern ein Geviert auf Holzstelzen mit schräg angebrachten verbeulten Zinkrinnen mit jeweils einem rostigen Wasserhahn, der sich nur schwer öffnen lässt.
Über dem Gebilde hängt wieder eine einsame Glühbirne, die über eine Leitung, die über die Wipfel der Baumkronen führt, mit Strom versorgt wird. 25 Watt, lese ich auf dem Sockel. Gewaltig, diese Illumination! In der Mitte des Gevierts ist ein alter Küchentisch aus den Fünfzigern über den Rinnen angeschraubt, der aber ohne Platte ist. Ob es da früher eine russische „Klofrau“ gab, die hoch oben auf der kalten Platte hockend über die Wald-Nudisten wachte und pro Kaltwaschgang 5 Kopeken verlangte? Der Tisch ohne Platte steht wie ein Denkmal inmitten der „Sanitäranlage“ und will uns sicher etwas sagen. Wir aber sind Kunstbanausen und verstehen nichts von hochstehender Kunst. Wir beschließen auch hier besser im See zu baden, um uns zu reinigen. Die Rinnenwaschanlage ist vom Hauptweg, wo auch Tagesgäste zum See hinunter gehen, voll einsehbar. Nur, wo sind hier die Dreiecke? Die Dusche befindet sich wiederum in einem anderen Waldstück in einer etwas neueren Baracke. Wir schauen kurz hinein und gehen gleich wieder. Hätten wir doch unsere alte Zinkbadewanne von Zuhause mitgenommen. Die war zumindest hygienischer als diese Dusche, die garantiert eine Nachbildung von „Fred Feuersteins“ Badezimmer sein soll.
Das Trinkwasser holen wir mittels Kanister neben einem verfallenen Schuppen, wo allerlei undefinierbares Gerümpel herumliegt. Kleine verfaulte Fischchen und rostige Schrauben liegen vor dem Kran auf dem nassen Waldboden. Die Mücken sind hier Zuhause. Nach dem Zapfen von nur fünf Litern Wasser aus dem Tiefbrunnen ist man so zerstochen, dass man allein schon wieder vier Liter Brunnenwasser braucht, um die wunden Stellen abzukühlen. Gut, nun habe ich von den Wohltaten berichtet, die uns hier angetan werden sollten.
Nun berichte ich von der Freundlichkeit und der Ungezwungenheit der Menschen hier. Wir haben kein Brot und keine Butter und auch fast nichts mehr zu Trinken im Wagen. Wir fragen die Platzwartin, wo das nächste Geschäft sei. Sie fängt an, zu erklären, ruft das Geschäft an, um zu fragen, ob sie uns was bringen könnten, stockt aber dann, holt den Zündschlüssel zu ihrem Kleinwagen aus ihrem Häuschen und…fährt uns zum nächsten Dorflädchen zwei Kilometer weiter. Das ist mehr als einfacher Service! Wir verzeihen ihr die Sanitäranlagen sofort und lassen uns von ihr in dem Laden, den wir ohne sie nicht als ein Geschäft erkannt hätten, da außen keine Reklame angebracht war, alle sieben Köstlichkeiten Lettlands erklären. Sie berät uns wirklich gut und hat ihre Freude an unseren erstaunten Blicken, wie wir die Waren taxieren. Ein Pfund Weißbrot kostet nur 28 Cent, 1 Kilogramm bester Käse aus der Region nur 4,50 Euro, eine große Schachtel Pralinen 1,40 Euro usw. usw. Wir decken uns ein und geben ihr ein Trinkgeld für die Fahrt, das sie nach anfänglichem Zögern auch dankbar annimmt.
Wir wissen inzwischen, dass ein Rentner etwa 60 bis 200 Lat im Monat bekommt. Das sind etwa maximal 200 Euro. Die Menschen hier auf dem Gelände sind sicher nicht reich und müssen den Lat dreimal umdrehen, bevor sie ihn ausgeben. Ich glaube ganz fest daran, wenn mehr Geld da wäre, wäre der Platz auch besser in Schuss. Die Leute können nicht anders.
Da der Ausblick auf den See aber so wunderschön ist und auch die Letten so zuvorkommend und freundlich sind, beschließen wir kurzerhand, eine weitere Nacht an diesem Naturcampingplatz zu bleiben. Riga, die Hauptstadt Lettlands mit ihren über 700’000 Einwohnern liegt nur 25 Kilometer entfernt und wir fragen, wie wir da am besten ohne Traktor hinkommen können. Sofort wird herumtelefoniert. Alle Familienmitglieder beraten sich und eine junge Frau, Helena, kommt wenig später in den Bauwagen und bringt eine handgeschriebene Liste der Abfahrts- und Ankunftszeiten und einen Zettel, der dem Busfahrer auf der Rückreise sagen soll, wo er uns auf der E 67 wieder rauslassen soll. Denn vor dem Campingplatz gibt es keine Bushaltestelle. Zwei Kilometer weiter ist sie und es gibt auch keinen Weg für Fußgänger, die vom Norden kommen dahin.
Wir werden am Randstreifen der Hauptverkehrsstraße morgen entlang trippeln müssen. Aber wir sind ja noch „jung“ und mutig genug, auch diesen Weg gemeinsam zu gehen. 37 Jahre lang sind wir ihn ja schon gemeinsam gegangen.
Wir schwimmen am Nachmittag eine Runde. Ein Portugiese mit seiner lettischen Frau besucht uns und macht einen Eintrag ins Gästebuch. Auch Helena mit ihrem amerikanischen Freund Anatol trägt sich ein. Alle hier sind sehr nett mit uns Ausländern und wir fühlen uns wieder mal sehr gut aufgehoben. Einige Badegäste grillen Fleischstücke am Spieß und trinken Bier dazu oder spielen Volleyball auf der kleinen Sandanlage neben unserem Platz oder holen ihre Ziehharmonika aus der Hülle und singen dazu schwermütige russische Volkslieder. Ich genieße diese Atmosphäre und lausche den Klängen. Alles ist so friedlich. Nur das Thermometer spinnt. Es will uns doch wirklich weismachen, dass wir schon wieder die Dreißiggradgrenze erreicht haben. Die blutrote Sonne gegen 23 Uhr über dem See verlockt mich zu bezaubernden Fotoaufnahmen. Morgen fahren wir also mit dem Linienbus in die Hauptstadt Lettlands. Ob sie dort auch so offen zu uns sind?