Lettland – 12-06-11

12. Juni

Um kurz vor Zehn sind wir per Pedes unterwegs. Die LKWS auf der E 67 rauschen mit hoher und sehr hörbarer Geschwindigkeit uns uns vorüber. Wir werden als Fußgänger nicht registriert. Der Bus nach Riga soll um zwanzig vor elf an der besagten Haltestelle ankommen. Um Halbelf schon hält ein Linienbus. Alle steigen ein. Wir auch. Der Fahrer schüttelt den Kopf, als wir ihm unseren Fahrplan zeigen. Dann liest er noch einmal und nickt. Warum auch immer. Wir fahren mit. Der Bus ist modern eingerichtet, nur eine Klimaanlage hat er nicht. Ich sitze am Fenster und erschwitze mich schon nach 10 Minuten. Wir fahren über verschiedene Dörflein. Dieser Bus nimmt eine andere Route als die, die uns angesagt wurde auf der direkten Strecke nach Riga. Aha! Die Fahrt dauert auch fast eine Stunde, 20 Minuten länger als wohl „unser“ Bus gebraucht hätte. Ich habe noch nichts von dem Fahrpreis geschrieben. Also, kurz und gut. Wir zahlen jeder einen Lat, etwa 1,15 Euro. Donnerwetter! Am Zentralbahnhof in Riga, gleich neben dem Markt wirft uns der Fahrer raus. Wir sind da.

Marktstand in RIGA
Marktstand in RIGA
Rigaer Straßenbahn
Rigaer Straßenbahn

Der Markt mit seinen unzähligen Buden und festen Geschäften hat eine geschätzte Ausdehnung von ca. einem halben Quadratkilometer. Es gibt sogenannte Meilen. Die eine, wo wir zuerst lang gehen, bietet ausnahmslos Schuhe feil. Das teuerste Paar, das ich bei den etwa 200 Schuhständen entdeckt habe, waren Damenpumps aus Krokodilleder mit mörderischen Absätzen zu einem Preis von 22 Lat. Herrenturn- und Halbschuhe kosteten so um die 15 Lat. Eine andere Meile hat ausnahmslos Kopfbedeckungen. Ich lasse mir eine rote Schirmmütze mit der Aufschrift „Riga“ andrehen zu 4 Lat. Dann kommen wir in die Gasse der Blumen und Pflanzen.

Eine andere Gasse bietet Obst und Gemüse an. Erdbeeren, dick und rot und saftig zu 1,20 Lat das Kilo. Wieder eine andere Straße hat nur Damenober- und Unterbekleidung. Wir kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Hier herrscht reges Treiben. Ich habe nicht beobachten können, dass gefeilscht wurde. Denkbar wäre es aber. Überall wird „Kwass“ aus Plastikkanistern ausgeschenkt. Ich kenne dieses alkoholfreie Getränk und habe es als Durstlöscher schätzen gelernt. 

Riga beherbergt einen der größten Märkte Europas und ist alle Wochentage geöffnet. Die Menschen sind adrett gekleidet und achten auf ihr Äußeres. In dem Bahnhofsrestaurant um die Ecke gehen wir in die Cafeteria und bestellen uns ein wohlschmeckendes Mittagessen. Gegrillte Schweinefiletstücke mit Pommes, Salat und Gemüse. Dazu ein Kaltsaftgetränk. Macht alles zusammen 8 Lat. Mahlzeit!

Nun überlegen wir, was wir in der Hauptstadt noch unternehmen können. Der Hunger ist gestillt, der Durst gelöscht und die Neugier auf zu Entdeckendes groß. Auf Anhieb finden wir eine Informationsstelle und fragen wegen einer Stadtrundfahrt nach. Die deutschsprechende Dame ruft uns ein Minitaxi und eine Handelslehrerin für das Fach Deutsch als Fremdenführerin. Ob es wohl auch eine „Einheimischenführerin“ gibt? Sie spricht wirklich sehr verständlich und hat ein hohes Wissen um die Vergangenheit der Stadt. Der lettische Fahrer bleibt stumm. Er hätte auch gar keine Chance gehabt, zu Wort zu kommen. Ich auch…fast nicht.

Beinahe hätten wir unseren noblen Ackerschlepper gegen eine schlichte Limousine eingetauscht
Beinahe hätten wir unseren noblen Ackerschlepper gegen eine schlichte Limousine eingetauscht
Ich schaufel mir auf dem Schaufelraddampfer ein kühles Bier rein
Ich schaufel mir auf dem Schaufelraddampfer ein kühles Bier rein

Wir durchfahren im Schritttempo die Neustadt, die Altstadt, die Parks, den Hafen, die Flaniermeile Rigas und sind fasziniert von der Größe der Stadt und auch von vornehmen Häusern ehemaligen bekannten Personen, wie z.B. das Geburtshaus des brillanten Komikers Heinz Ehrhard. Ein Herr Eisenstein, den Vornamen habe ich leider vergessen, ein weltberühmter österreichischer Architekt und Schöngeist hat sich besonders um die Stadt verdient gemacht. Viele der sehr hohen, mit mannigfaltigen Verzierungen und Putten versehenen Prachtbauten im Jugendstil haben ihre eigene große Vergangenheit und unsere Führerin berichtet sehr eindrucksvoll darüber. Bezeichnend für diesen Architekten ist z.B., dass alle Häuser zwei Eingänge haben und das oberste Geschoss keine Fenster hat und kein Dach. Es wird das Himmelsstockwerk genannt. Sehr luftig schaut es da oben aus. In diesen Prunkbauten sind heute einige Botschaften, Schulen und Ämter untergebracht. Auch die Kirchen beeindrucken. Ihre Kuppeln sind mal in Gold, in Blau oder auch in Grün zu sehen. 

So eine Rundfahrt, bzw. Rundgang macht durstig. Besonders bei 31 Grad. Wir setzen uns in ein Kaffee und schlürfen aus einem Trinkhalm einen frisch gepressten Orangensaft. Über den weiten Platz, der mit Kopfsteinpflaster belegt ist, fährt ein weißer neun Meter langer Mercedes in die Mitte. Der Chauffeur steigt aus, öffnet eine der Türen und heraus steigt ein frisch vermähltes Ehepaar. Beide sehen wie Prinz und Prinzessin aus. Die Braut hat ein langes weißes, mittellanges Kleid mit vielen Stickereien  an und hält einen Strauß dunkelroter, fast schwarzer Pfingstrosen in den Händen, der Ehemann trägt einen dunkelblauen Frack mit einer roten Schärpe. Herzlichen Glückwunsch, rufen wohl die Umstehenden den Glücklichen zu. Wir können nur zusehen und uns mitfreuen. 

Es geht auf zwei Uhr zu und wir bummeln das kurze Stück Weg  zum Hafen runter, wo die Schaufelraddampfer dümpeln. Gerade sind wir am Überlegen, noch eine Schifffahrt zu unternehmen, da werden wir von einem Kapitän angesprochen und animiert, mitzufahren. Die Gangway wird extra wegen uns noch einmal von Hand heruntergekurbelt und wir setzen uns aufs Oberdeck. Alle sprechen Russisch. Wir sind auf einem Schaufelraddampfer gelandet, der den Namen „Mississippi“ trägt. Ich lasse mich dazu verleiten, ein Glas Bier zu trinken, weil fast alle neben uns Bier trinken. Das war kein sehr guter Gedanke, merke ich nach dem letzten Schluck. Die Sonne brennt sich bis in meine Därme hinein und lässt ein höllisches Feuer lodern. Das kann ja lustig werden.

Einkauf in einer der "Zeppelin-Großmarkthallen" in Riga
Einkauf in einer der "Zeppelin-Großmarkthallen" in Riga

Eine Stunde lang haben wir die prachtvolle Kulisse von Riga vor uns und schippern auf dem breiten Strom „Daugava“ entlang. Eine Stadt mit einer sehr langen und großen Geschichte, die einst von deutschen Hanseleuten gegründet wurde. Zuletzt gönnen wir uns noch einen Besuch in den Markthallen. Vier oder fünf an der Zahl und  nebeneinander oder vis-a-vis gelegen, dienten sie früher dem Aufbau der Zeppeline in Riga. Man kann sich kaum vorstellen, wie gigantisch diese Hallen sind. Eine einzige Halle dient allein dem Verkauf von Fleisch- und Wurstwaren. Wir hamstern. Ein breites Stück geräucherter Paprikaspeck kostet nur 32 Cent, eine lange Dauerwurst, ähnlich wie unsere Knobeliner 89 Cent. Wenn es nicht so heiß gewesen wäre an diesem Tag, hätten wir uns einen schönen Schweinefiletbraten geholt, das Kilo für schlappe 3,20 Euro. Wir laufen und laufen, kaufen uns ein kleines, knuspriges Weißbrot für 29 Cent und zwei Gebäckstückchen mit Füllung zu je 18 Cent. Als wir die letzte Halle mit schweren Füßen und vollen Taschen wieder verlassen wollen, donnert und blitz es und es setzt solch ein heftiger Gewitterregen ein, dass wir die Halle, wie alle anderen auch, nicht mehr verlassen können. Es gießt in Strömen und immer mehr Leute suchen Schutz im Eingangsbereich. Die Händler dagegen nehmen’s gelassen und halten nur die Verkaufstände fest, die durch den Starkwind umzustürzen drohen. 

Ein ganz Findiger steht ohne Schutz im Gewitterregen und bietet Stockschirme an. Er hat sicher für diese Woche ausgesorgt. In kürzester Zeit sind alle verkauft. Auch Barbara hat gerade noch einen erstanden. Ein solides Stück und kein Importprodukt mit Holzgriff. 

Nach 20 Minuten ist der Spuk vorbei. Wir müssen uns sputen. Unser Bus wartet nicht. Wir gehen an einen der Schalter im Bahnhof und fragen, an welcher Haltestellennummer der Bus abfährt und wann und was es kostet. Nummer 11, 16 Uhr 50, je 1,20 Lat. Danke! Der Busbahnhof ist draußen voll mit wartenden Menschen. Einigen sieht man überdeutlich das letzte Gefecht mit dem  zürnenden Wettergott an. In den Halbschuhen steht das schmutzige Gehsteigwasser und gibt bei jedem Schritt knarrende Geräusche von sich. Rigaer Wassermusik?“ An der gegenüber liegenden Seite des Bahnhofes an einem Kanal schauen wir zerlumpten Gestalten zu, wie sie die Müllcontainer der Händler und Touristen nach Verwertbarem durchsuchen und in Plastiksäcke stopfen. Es jammert einen, wenn man so etwas sieht und nicht helfen kann. Der Busfahrer, dem ich den handgeschriebenen Zettel von Helena vorhalte, schüttelt den Kopf. Entweder er kennt unseren Anhalteplatz nicht oder er will oder darf dort nicht stehen bleiben.  Ich habe wohl eine sehr klagevolle Miene gezogen, dass er Mitleid mit uns Ausländern bekommen hat und uns doch mitfahren lässt. Wir nehmen uns vor, ihm beim Ausstieg einen Lat zusätzlich zu geben.  Als er tatsächlich an besagtem Campingplatz auf offener Strecke kurz hält und ich ihm das Geldstück in die Hand drücken will, sagt er nur mit finsterem Gesicht:“ Money, money!“ Und malt eine Eins in die Luft. Das Aussteigen geht schnell und husch sind wir über die Bundesstraße wieder auf unserem Platz. 

Stellplatz für 2 Tage am Ufer eines Sees
Stellplatz für 2 Tage am Ufer eines Sees

Während unserer Abwesenheit hat sich der Strand mit Menschen gefüllt. Es ist schließlich Pfingstsamstag und alle haben Zeit. Überwiegend junge Leute sind es, die grillen und trinken und trinken und grillen. Die Mädchen kreischen und die Jungen lachen laut. Schön, wenn man das Leben in diesem Alter genießen kann. Doch wir beiden Alten…genießen es auch.  Jeden Tag! Wir lieben das Leben und die Freiheit, die es uns schenkt. Jeder neue Tag ist ein Geschenk des Himmels. An das „Zigeunerleben“ haben wir uns inzwischen so sehr gewöhnt, dass wir sicher Mühe haben werden, uns in Räumen wieder wohl zu fühlen, die mehr als 10 Quadratmeter haben. 

Aber bis dahin stehen noch 10000 Kilometer Strecke und 11 Länder aus. Wir hören Bernhard Brink auf CD und Tina Turner bis in die späte Nacht hinein. Es sind hier nur ein paar Tropfen Regen am Nachmittag gefallen und die Haube unseres treuen Ackerfreundes sieht dementsprechend grau aus. Die Wegstecke, die wir am nächsten Tag bewältigen wollen bis zur Grenzstadt „Bauska“ beträgt 110 Kilometer. Nur, es gibt weder auf der ADAC-Karte einen angegebenen Campingplatz in dieser Richtung und in diesem Landesteil, noch auf einer hiesigen Landkarte. Barbara ist schon wieder leicht am Bibbern, doch ich frage sie, ob wir schon einmal in den letzten 70 Tagen im Straßengraben übernachtet haben. 

Sie schaut mich an und in ihren Augen sehe ich wieder Hoffnung.

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