13. Juni
Diesmal verabschiedet uns niemand. Wir „schleichen“ uns davon. Shorts und ein luftiges T-Shirt sind der Witterung angebracht. Die beiden Krawatten, die ich zu aller Vorsicht eingepackt hatte, schlummern nach wie vor ungebunden unter dem Stauraum des Bettes. Ich werde sie erst in Polen brauchen, wenn wir Big-Norbert, den „Rimaster-Allrounder“ und Firmenchef eines weltweit umspannenden Imperiums in der Stadt „Czaplinek“ treffen. Ich will doch als Gast keinen schlechten Eindruck machen. Mir fallen die besonderen Automarken auf, die uns begegnen. Wartburgs sehe ich da und russische Barkas-LKWS und auch mir ganz unbekannte Automarken. Die „Belarus-Traktoren“ sind sehr häufig anzutreffen. Die Marke „Zetor“ dagegen so gut wie nicht. Ich möchte einmal nur einem zweiten Zetor 5011 in die Scheinwerfer schauen und ein Foto machen. Ob das wohl in Polen klappt?
Wir fahren am Stadtrand von Riga vorbei, immer auf der E 67. Die unzähligen Baustellen machen besonders dem Lenker unseres Gespanns zu schaffen. Die abgefräste Teerdecke ist dermaßen holprig, dass ich den Speed auf 15 km/h drosseln muss. Die lettischen Trucker haben wohl eine viel bessere Federung oder ein besseres Rückgrad. Sie fahren mit einer Arroganz durch die tiefsten Schlaglöcher, dass ich blass werde. Weit hinter Riga wird es endlich etwas ruhiger.
Am Wegrand blüht kilometerweit das weiße Mädesüß, eine hoch wachsende Sumpfpflanze, aus der man auch mit einiger Vorsicht einen vortrefflichen Dessertwein herstellen kann. Einige Pflanzenteile sind schwach giftig. Vor vielen Jahren habe ich es einmal ausprobiert und der Wein schmeckte vortrefflich. Auch das Wollgras feiert hier Hoch-Zeit und ich ergötze mich am Anblick der reichen Fauna. Störche sehen wir auch hin und wieder, aber nicht so gehäuft wie am Vortag. Ihr Refugium liegt weiter abseits der großen, lauten Europastraßen.
Wir stimmen ein Kirchenlied an. Heute ist Pfingstsonntag und es drängt uns ob dieser uns umgebenden Natur zu singen. „Geh aus mein Herz und suche Freud!“ Nach der dritten Strophe kommen wir nicht weiter. Text vergessen. Macht nichts! So singen wir halt zusammen das Volkslied „Im Frühtau zu Berge“, obwohl keine Berge in Sicht sind. Macht nichts! Von Bergen haben wir auch genug. Besonders Barbara, die sich mit einigem Grauen an die schneebedeckten Berge Lapplands erinnert. Sie hat heute zum zweiten Mal meinen Sitz mit Caramba, einem Sprühöl eingesprüht, da er meist im unpassendsten Moment so vernehmlich quietscht, dass wir immer noch annehmen, es wäre die Auflaufbremse.
Bei der nächsten Baustelle vor „Iecava“, nahe der Grenze zu Litauen rutsche ich hin und her auf meinem Schleudersitz und mache mich leicht, um wenigstens den Motor noch laufen zu hören. Es hilft nichts. Es quietscht weiter. Macht nichts! Wir fragen in einem Einkaufsmarkt in der Stadt „Bauska“ nach einem Campingplatz nach. Die Auskunft ist dünn, aber vielversprechend. Es soll 7 Kilometer hinter der Stadt ein Motel geben, das auch Camper aufnimmt. Das deutliche, weiße Hinweisschild weist uns den Weg zum Tagesziel. “Vecozolnieki“ bei dem Flecken „Arce“. Aussprechen können wir die Ortsnamen selten. Unsere Zungen weisen leider keine Knoten auf. Ein kurzer schmaler Weg von der Hauptstraße links runter zu einem Gehöft, wo an der Fassade die Aufschrift „Motel“ steht. Es sieht alles sehr, sehr ländlich aus und nicht gerade nach einem Motel, so wie man es in Deutschland kennt.
Ein kleiner, schlanker Mann in unserer Jugend kommt uns entgegen. Er trägt einen grauen verschlissenen, ehemals grauen Arbeitskittel mit vielen Löchern und eine Art gelochten Helm auf dem Kopf mit einem Vorhang darüber. Sein Lachen ist ansteckend. Als wir ihm unser Sprüchlein vorgetragen haben, sagt er umgehend zu. Hinter dem Wohnhaus, das gleichzeitig zu einem Teil Motel ist, führt über ein Wiesengrundstück ein Wirtschaftsweg, der zu einer größeren Wiese führt. Vladimirs Manavickis, so heißt dieser Hobbyimker, stammt aus der Ukraine und ist Frührentner. Er erhält eine schmale Rente von 59 Lat im Monat, etwa 70 Euro und bessert seinen Lebensabend mit dem Verkauf von Honig und selbstgekeltertem Traubenwein auf. Seine Ehefrau ist Russin und die Nachbarn titulieren ihn immer scherzhaft mit dem Wort „Kollaborateur“, wie er gleich in urigem Ukrainischdeutsch von sich gibt. Er hat sehr wache Augen und ist sehr interessiert an unserer Reise.
Zwei Schweine füttert er durch und sie bewirtschaften nebenbei noch einen großen Obst -und Gemüsegarten, von dem sie wohl überwiegend leben. Einen Sohn gibt es, der wohl in Arbeit steht und eine Schwiegertochter und zwei kleine Kinder. Der Stellplatz ist eine Wucht! Unter alten, knorrigen Apfelbäumen stehend und umgeben von Wiesengrün und etwa 30 Bienenstöcken stehen wir wieder einmal genau richtig.
Glück muss man haben. Vladimirs zeigt uns seine Acryl- und Ölgemälde, die er direkt neben uns im Gästehaus, wo sich auch die Toilette befindet im Partyraum aufgehängt hat. Frische dicke Farbtupfer stellen die nähere Umgebung, den Sommer im Garten und in der Vase und einige Gebäude aus der Stadt „Bauska“ dar. Gegenständlich. Malen kann er! Er bietet mir sofort seine Staffelei an, da ich ihm erzähle, ich würde auch malen. Doch dazu fehlt mir einfach die Zeit. Ich schreibe lieber. Das ist meine Passion. Und er bringt uns sogleich ein umfangreiches voll geschriebenes Gästebuch an, wo sich sehr interessante Besucher eingetragen haben, wie da war ein junger Chinese, der auf einer 125 ccm-Maschine von China über die Mongolei und Russland und das Baltikum usw. nach Griechenland gefahren ist und bei ihm übernachtet hat und ein Paar aus Seattle, USA , das mit seinen beiden 10 und 12 Jahre alten Kindern eine Fahrradtour über 15000 km durch das alte Europa unternommen hat.
Ich schreibe ihm einen schönen, poetischen Text in das Buch und klebe unsere Visitenkarte hinein. Unser Gästebuch nimmt er mit ins Haus, um in Ruhe auch etwas Schönes hinein zu schreiben. Dann bringt er uns ungefragt einen großen Teller mit ungemein schmackhaftem Käse mit und eine kleine Flasche mit süßem Hauswein. Dazu noch einen Topf mit Honig als Begrüßungsgeschenk. Wir essen und trinken und erzählen und lachen zusammen und erfahren sehr viel von der Lebensweise der Letten und ihrer Mentalität. Am Abend sehen wir uns das Grundstück näher an und machen einen kleinen Bummel durch die Umgebung.
Weit kommen wir nicht, da die restliche Wiese zu hoch steht, um durchgehen zu können und auf der anderen Seite beginnt schon die fußgängerfeindliche Europastraße. Wir fühlen uns wohl bei Vladimirs. Immer, wenn er mit seinen Worten nicht weiterkommt, blättert er in einem vergilbten Wörterbuch. Deutsch-Lettisch, Lettisch-Deutsch. Das klappt gut und so ist die Verständigung fast optimal. Der weitere Tag verläuft sehr ruhig und wir lassen den Abend unter dem klaren Sternenhimmel unter den Apfelbäumen sitzend ausklingen.